7. Januar 2010
Christian Geyer kritisiert im FAZ den Mangel an Tabubrecher. Wir können liefern.
G.O. Mueller kommentiert in seinem Brief über die Wissenschaftsfreiheit an 639 Staatsrechtslehrer vom März 2008 einen Artikel von Christian Geyer im FAZ vom 13.02.08: Kulturkritik – Ist Hecheln unsere Leitgeschwindigkeit?
Zitate G.O. Mueller:
Ein scharfer Kontrast bedarf der Erklärung
Abschließend möchten wir auf einen merkwürdigen, scharfen Kontrast aufmerksam machen, der in der Bundesrepublik zwischen Politik und Gesellschaft einerseits und den Zuständen in der theoretischen Physik andererseits herrscht.
Politik und Gesellschaft freuen sich über sich selbst, daß der Gedanke der Gleichberechtigung der Religionen, der Weltanschauungen, der Geschlechter, der geschlechtlichen Orientierungen und der nationalen und kulturellen Minderheiten in der Bundesrepublik weitgehend in die Praxis umgesetzt worden ist und wird. Im Sinne der Toleranz wird ein politisch korrekter Sprachgebrauch propagiert. Durch politische, rechtliche, wirtschaftliche und administrative Initiativen wird jede Form von Diskriminierung von der Berufswahl bis zur Wohnungssuche durch Antidiskriminierungsmaßnahmen bekämpft. Ein neues Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ist in Kraft getreten. Instanzen wie Ombudsmänner werden eingerichtet und Whistleblower zur Aufklärung von Mißständen beschworen. Ethikräte werden eingerichtet, weil alle Beteiligten sich gern beraten und auf den rechten Weg führen lassen wollen, um möglichst kein Unrecht zu tun.
Auf Länder und Gesellschaften, die diese Ziele nicht erreichen oder sogar nicht einmal anstreben, blickt man herab und zieht wohl auch mit der Armee in den Krieg, um sie auf unseren rechten Weg zu bringen. Zugleich wird die Freiheit zur Beleidigung von Religionsgründern als weiteres wichtiges Grundrecht eingefordert.
In Diskussionen im Vorfeld der politischen Umsetzung werden gar die Grenzen des bisher Diskutablen kontrovers abgeschritten: die Folter, der Abschuß von Zivilflugzeugen und – aus England gemeldet, in Deutschland nicht undenkbar – die begrenzte Anwendung der Scharia in internen Angelegenheiten von Migrantenfamilien. Im Sinne solcher Diskussionen rufen unsere Geistesgrößen und Führergestalten in regelmäßigen Abständen öffentlich händeringend nach “Querdenkern”.
Genau hierzu meldet kurz vor Redaktionsschluß des vorliegenden Briefes unsere Presseauswertung passenderweise eine weitere Preziose, einen neuen Höhepunkt der Heuchelei unseres Zentralorgans für Zensur und Gleichschaltung.
Die FAZ vom 13.2.08 berichtet, gestützt auf Zitate von Philosophen und Soziologen, über den aktuellen Bedarf an
– “Berufskritikern”,
– “den Typus des intellektuellen Eingreifers, der etwa als Schriftsteller oder Philosoph in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen von Zeit zu Zeit die Szene aufmischt”,
– “der eingreifende Intellektuelle”,
– diese ”verfassungsrechtlich verbürgte Rolle” darf nicht in Abrede gestellt werden;
– “betriebsferne Störenfriede” dürfen nicht als “unzuständig” erklärt werden;
– der “intellektuelle Störenfried”,
– der “Intellektuelle als Feuermelder, der es versteht, mit militant gehaltenen Diagnosen Alarm zu schlagen”;
– der “Intellektuelle muss sich aufregen können … darf sich nicht einschüchtern lassen”;
– der Intellektuelle soll in “Außenseiterstellung auf seine parteipolitische Ungebundenheit […] achten, unbekümmert um die Erwartungen des Publikums im Modus bewußt provokanter Übertreibung sich doch bitte als Ruhestörer […] plazieren”;
– “Haben wir die Hochzeit intellektueller Tabubrecher nicht auch deshalb hinter uns, weil es kein Tabu mehr gibt, das noch zu brechen wäre?”
Unsere Antwort auf den Tabumangel: Wir können liefern.
Unser Kommentar: Offensichtlich haben wir bisher als “Ruhestörer” nicht hinreichend “provokant übertrieben”, mit “militant gehaltenen Diagnosen” nicht genügend “Alarm geschlagen”, die “Szene nicht aufgemischt”.
Sollten die beinharten Unterdrücker und Gleichschalter der FAZ sich wirklich nach Ruhestörern und Störenfrieden sehnen, dann müßten sie entweder eine Fliege im Helm haben oder an Depressionen leiden. Beides erscheint unwahrscheinlich.
Die skurril-sentimentale Bitte um Störung ist daher eine Heuchelei und in Wahrheit das genaue Gegenteil: Eine Beschwörung und Abwehrzauber gegen die Diskussion von Tabus und gegen jegliche Ruhestörer und Störenfriede! Es gibt kein Tabu mehr, das zu brechen wäre – also braucht man auch keine Tabubrecher und Ruhestörer.
Für die großartige Steilvorlage (Christian Geyer: Ist Hecheln unsere Leitgeschwindigkeit?) und das vorzügliche Timing danken wir der FAZ-Redaktion. Die “verfassungsrechtlich verbürgten” Rollen von “Berufskritikern”, “intellektuellen Eingreifern”, “intellektuellen Störenfrieden”, “Feuermeldern”, “Ruhestörern” usw. sind und bleiben unsere Traumjobs.
In dieser Gesellschaft voller Sehnsucht nach Querdenkern und Ruhestörern, in der der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten ist und es anscheinend nur noch an Tabus mangelt, wird es von den Repräsentanten der Öffentlichkeit kommentarlos schweigend hingenommen und wahrscheinlich sogar wohlwollend akklamiert, daß in einer Teildisziplin der Naturwissenschaften die Mehrheit des Faches ihre kritische Minderheit kurzerhand hinauswirft, die Kritiker böswillig verleumdet als Dummköpfe, Quertreiber, Neider, Psychopathen, Nazis, Antisemiten und Stalinisten, ihre kritischen Veröffentlichungen unterdrückt oder, sofern doch erschienen, von der fachlichen und öffentlichen Rezeption ausschließt.
Das eigentlich öffentlich finanzierte und angeblich öffentlich betriebene Wissenschaftsfach darf zur Beute seiner Mehrheitsanführer werden, als privates Rittergut eingesackt und nach Gutsherrnart bewirtschaftet werden, ein rechtlich exterritoriales Gebiet, wo unsere Gesetze nicht gelten. Die Bürger als Kritiker werden behandelt wie Abtrünnige aus gewissen Sekten, wie rechtlose Dissidenten in den Ostblockdiktaturen der jüngsten Vergangenheit, ihrer Grundrechte auf Wissenschaftsfreiheit, Schutz vor Diskriminierung und freie Berufswahl vollständig beraubt und durch die Gleichschaltung der Gesellschaft von allen Äußerungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit abgeschnitten. Die Obrigkeit mit ihren Kontrollfunktionen auf allen Ebenen sanktioniert diesen Zustand, der seit Gründung der Bundesrepublik besteht. Niemand, auch die zuständigen Organe nicht, will diesen Zustand bemerkt haben, nicht einmal seit Dezember 2001.
Ein schärferer Kontrast ist kaum denkbar: Ein Wissenschaftsfach gewissermaßen wie ein Gulag mitten im Paradies. (Haben wir damit hinreichend provokant übertrieben?) Ist es eine Laune der Natur oder ein Wunder oder ein Verbrechen? Auf jeden Fall ist es eine gesellschaftliche Schizophrenie ohnegleichen, die einer Erklärung harrt.
Die Ethnologie und die Psychopathologie der Nationen oder der Gesellschaften sind hier gefragt.
Hat Deutschland nach zwei Weltkriegen und einem Völkermord vielleicht als letzten Rest seiner Ehre nur noch den Glauben an eine intakte physikalische Theorie, die nun unter gar keinen Umständen durch Zweifel oder gar Kritik befleckt werden darf? (In gewissen Ländern wird die Befleckung der Staatsehre strafrechtlich verfolgt.)
Kann es bei einer physikalischen Theorie um den Heiligen Gral der Nation gehen? Woher bezieht diese gewaltige (und gegen die Kritiker gewalttätige) Verdrängung der Wirklichkeit ihre Energien? Warum unterwerfen sich alle Leuchttürme unserer Gesellschaft, die schon viele (oder gar alle) Tabus geknackt haben wollen, widerstandslos dem Großen Tabu der Gleichschaltung, über die man, weil es ein Tabu ist, nicht einmal reden darf?
Wie kommt die große Einigkeit gegen ein paar kritische Köpfe zustande, die nur beschriebene Blätter produzieren und Dateien ins Netz stellen können? Warum müssen sie zu Unpersonen gemacht werden? Warum muß die Allgemeinheit vor ihnen geschützt und ahnungslos gehalten werden – eine Allgemeinheit, die sonst völlig seelenstark und unzimperlich über Folter und Flugzeugabschuß diskutieren kann?
Gibt es vielleicht irgendeine geheime historische oder politische oder soziale Rechnung, für die ausgerechnet die aufgewecktesten und beweglichsten kritischen Geister unseres Landes bezahlen sollen? Ist vielleicht auch diese Frage schon verboten und so tabuisiert, daß niemand sie beantworten mag?
(G.O. Mueller)
[…] Über die wichtige Rolle von „Ruhestörern“ mit “provokant übertriebem” Auftritt bei Kulturkritik und Antasten von gesellschaftlichen Tabus hat übrigens der etablierte FAZ-Journalist Christian Geyer einiges geschrieben, von G.O. Mueller dokumentiert und kommentiert, siehe Christian Geyer kritisiert im FAZ den Mangel an Tabubrecher. Wir können liefern. […]