Blog – Jocelyne Lopez

Dr. Harald Zycha: Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft

Auf die Homepage von Dr. rer. nat. Harald Zycha hat Ekkehard Friebe in seinem Forum hingewiesen, mit Leseproben aus dem Kapitel 7.3. des Buches aus dem Jahr 2008 : Natur und Ganzheit.

Nachstehend wiedergebe ich einige Auszüge aus dem Kapitel 7 dieses Buches (siehe Inhaltsverzeichnis):

7.3 Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft

Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt Undurchführbares.“ So hat vor 400 Jahren der Mathematiker Galilei die Mathematik zum Grundwerkzeug der Physik erklärt. Für den Beginn der klassischen Naturwissenschaft, die sich zur Grundlage der heutigen Technik weiterentwickelt hat, ist diese Vorstellung verständlich und daher naheliegend. Ohne Einsatz der Mathematik kann es auch keine Anwendung der Physik auf unsere Welt geben!

Weil aber jene Vorstellung, wie wir schon mehrfach gesehen haben, zu einer Überbewertung der Mathematik in der Physik geführt hat, mit all den „Nebenwirkungen“ durch die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Irrtümer, möchte ich diese Problematik an dieser Stelle noch einmal explizit zur Sprache bringen. Vorweg die Feststellung: Die Mathematik ist (im Rahmen der Logik) die einzige wirklich exakte Wissenschaft, über die wir verfügen, aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum anzunehmen, daß man mit ihrem Einsatz in der Physik auch deren Exaktheit auf diese übertragen hätte. Das soll in dem Folgenden deutlich gemacht werden.

Es geht also jetzt konkret um die Frage, was die Mathematik in der Naturwissenschaft leistet: Inwieweit vermittelt sie einen Bezug dieser Wissenschaft zur Realität bzw. zur Wirklichkeit? Kann sie neue Seins-Erkenntnisse zutage fördern?

Hierzu zunächst zwei positive Stellungnahmen. B. Kanitscheider: „In der aristotelischen Wissenschaftsphilosophie fehlt eine wesentliche Zielvorstellung, die wir heute als für einen hohen Erfolgsgrad der Erkenntnis unabdingbar ansehen, nämlich die Mathematisierung.“ W. Heisenberg: „Unter allen möglichen Formen des Verständnisses wird die eine, in der Mathematik praktizierte Form als das ‚eigentliche‘ Verständnis ausgewählt.“ Damit geht Heisenberg in der Mathematik-Euphorie sicher am weitesten, indem er den philosophischen Zusammenhang, nämlich das Verstehen, von der mathematischen Behandlung der Natur abhängig machen will. Diese zunächst ungebremste Begeisterung für eine solche Auffassung zeigt sich auch in seiner allseits bekannten, aber immerhin doch vergeblichen Suche nach einer mathematischen Weltformel.

Heisenberg räumt aber dann doch an einer anderen Stelle ein, daß wir im Hinblick auf die in der Atomphysik verwendete „hochentwickelte mathematische Sprache, die hinsichtlich Klarheit und Präzision alle Ansprüche befriedigt [ … ] nicht wissen, wie weit [sie] auf die Erscheinungen angewendet werden kann. Letzten Endes muß sich auch die Wissenschaft auf die gewöhnliche Sprache verlassen, da sie die einzige Sprache ist, in der wir sicher sein können, die Erscheinungen wirklich zu ergreifen.“

In diesen widersprüchlichen Äußerungen ist eine gewisse Unsicherheit gegenüber der mathematischen Methode nicht zu übersehen. Und hier setzt dann auch die eigentliche Kritik an. Paul Feyerabend: „Die moderne Wissenschaft hat mathematische Strukturen entwickelt, die alles Bisherige an Systematik und Allgemeinheit übertreffen. Doch um dieses Wunder zu wirken, mußten alle bestehenden Schwierigkeiten in die Beziehung zwischen Theorie und Tatsachen verschoben und durch Ad-hoc-Näherungen und andere Verfahren verdeckt werden.“ Feyerabend illustriert diesen Vorwurf an einem Beispiel aus von Neumanns Arbeiten zur Quantenmechanik.
[…]
Der Einsatz der Mathematik in der Physik enthält also zwei Schwachpunkte: zum einen die Beschränkung ihres Bezugs zur Natur durch ihre einengende, abstrahierende Präzision, zum anderen ihre erkenntnistheoretische Sterilität, auf die ich jetzt noch etwas näher eingehen möchte.

Diese Sterilität liegt schon im tautologischen Charakter der Mathematik, der nach H. Weyl nur durch das Prinzip der „vollständigen Induktion“ durchbrochen wird, das aber in der Anwendung auf die Physik kaum jemals zum Zuge kommen dürfte. Ein tautologisches System hat (in der Kantschen Ausdrucksweise) rein analytischen Charakter, keinen synthetischen, kann also prinzipiell niemals eine neue Erkenntnis hervorbringen, sondern nur eine bereits bekannte Aussage, und sei sie noch so versteckt in die Theorie eingebracht, in eine andere Form überführen.
[…]
Für unseren Zusammenhang ergibt sich aus dem Vorstehenden die besonders wichtige Konsequenz: Man darf nicht eine mathematische Umformung bestehender theoretischer Zusammenhänge für eine qualitativ neue (Seins-)Erkenntnis ausgeben, sie liefert nur eine quantitative Präzisierung bereits vorhandener Datenzusammenhänge. Der erkenntnistheoretische Gehalt einer physikalischen Theorie liegt also niemals in ihrem mathematischen Apparat, sondern ausschließlich in den Prämissen, in den Vorstellungen und Annahmen, die der mathematischen Behandlung unterworfen werden.

Deshalb kann man auch nicht mit den Deutungsproblemen einer Theorie zurechtkommen, wenn man die Ursachen im mathematischen Apparat sucht. Und völlig absurd finde ich es, wenn man diesen Apparat oder schließlich sogar die Grundlagen unserer ganzen Logik auf den Kopf stellt, nur um die Fehler, die man nicht erkennt, am Leben zu erhalten.
[…]
Dies alles ist keineswegs eine Kritik an der Mathematik, ganz im Gegenteil: In meinen Augen ist die Mathematik, einschließlich der Geometrie, nicht nur die exakteste aller Wissenschaften, sondern auch die schönste, deren Ästhetik sich dem erschließt, der in ihre Geheimnisse tiefer eingedrungen ist. Ihr etwaiger philosophischer Bezug zur Wirklichkeit unserer Welt kann jedoch nicht damit erzwungen werden, daß man ihr kunstvoll gewebtes Netz zerstört, wie das die modernen Physiker versuchen.

(Dr. Harald Zycha)