24. Januar 2008
Prof. Dr. Gottfried Anger schreibt an Frau Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung
Datum 12.12.2007
Sehr verehrte Frau Bundesministerin,
die Gesellschaft für Angewandte Mathematik informierte mich, dass das Jahr 2008 als
Jahr der Mathematik
ausgerichtet wird. Die Mathematik zählt zu den ältesten Wissenschaften. Bereits vor 4000 – 5000 Jahren wurden zum Beispiel im vorderen Orient Untersuchungen über spezielle Probleme der Mathematik angestellt. Solche Fragestellungen ergeben sich aus täglichen Problemen der Menschen.
Am 30. November 2007 hatten Sie an der TU Berlin die große Mathe-Schau im Rahmen des Sonderforschungsbereiches Matheon eröffnet. Diese Veranstaltung gab einen interessanten Überblick über spezielle Probleme der Mathematik, die für die anwesenden Schüler bestimmt von großem Interesse waren. Seit 1952 beschäftige ich mich mit der Mathematik und ihren Anwendungen. Zuerst habe ich 20 Jahre lang reine Mathematik (im Sinne der französischen Mathematiker) betrieben und danach mich Fragen der angewandten Mathematik im Sinne russischer Mathematiker zugewandt. Dabei bin ich auf sensationelle Lücken der Theorie gestoßen, die sich vor allem in der medizinischen Diagnostik sehr negativ auswirken.
Physiker und Mathematiker haben fast vergessen, sich mit komplexen Systemen der Natur, speziell mit der Leistungsfähigkeit von physikalischen Feldern, auseinanderzusetzen. In der obigen Veranstaltung fiel kein Wort über unsere zentralen Fragen des Lebens. Die theoretischen Aufgabenstellungen der Physiker und Mathematiker sind diejenigen wie vor 50 Jahren, natürlich weiterentwickelt. Und dabei spielt sich unser Leben ab in komplexen Systemen, wir selbst sind ein komplexes System und ernähren uns von komplexen Systemen.
Behandelt werden immer nur Teilfragen davon, oft wird nicht richtig auf das Gesamtsystem geschlossen. Für solche komplexe Systeme gilt nur praxis cum theoria. Und die praktischen Erfahrungen in der Medizin werden, speziell an den Universitäten, sträflich vernachlässigt!! Im Mittelalter wandte man sich Fragen der Naturwissenschaften und der Technik zu. Von großer Bedeutung sind die Untersuchungen von Galileo Galilei (Discori 1638) und von Sir Isaac Newton (Principia 1687), der in seinem fundamentalen Werk bereits damals darauf hinwies, dass in der Experimentalphysik nur die Erscheinungsformen (Realität der Natur) und nicht Hypothesen von Bedeutung sind. Die heutige theoretische Physik beruht im Fall der offenen Natur und des Universums (keine Technik) zum großen Teil auf Hypothesen, deren Ergebnisse für die Natur selten nachgewiesen wurden und wegen der Komplexität der Natur sich meist nicht nachweisen lassen. Hier sind prinzipielle Veränderungen in Forschung und Lehre notwendig!! Diskussionen über diese Fragen sind in der Wissenschaft nicht erlaubt und werden seit 1922 vollkommen unterdrückt. Man findet wichtige Bemerkungen dazu im Internet bei http://www.neundorf.de, http://www.ekkehard-friebe.de, http://www.bourbaki.de/ und meiner Homepage.
Die von Newton und Leibniz um 1700 entwickelte Differential- und Integralrechnung brachte einen großen Fortschritt bei der Beschreibung einzelnen physikalischer Vorgänge. Der englische Physiker James Clark Maxwell (1831 – 1879) beschrieb die elektrodynamischen Prozesse mit Hilfe mathematischer Modelle. Hieraus entwickelten sich weitreichende technische Prozesse, die unter anderem zur heutigen Mikroelektronik führten. Albert Einstein sprengte mit seinen Veröffentlichungen 1905 den engen Rahmen der Newtonschen Ideen.
Allerdings war damals die Mathematik für diese tiefliegenden Probleme unterentwickelt. Viele Diskussionen über Einstein haben dieses als Ursache. Jetzt liegt eine hoch entwickelte Mathematik vor, die viele Probleme mit dem Verhältnis Theorie – Praxis klären kann. Allerdings sind die meisten Mathematiker und theoretischen Physiker nur an speziellen Teilfragen interessiert, die wenig Auswirkungen für das Verhältnis Theorie – Praxis haben. Außerdem ist die Erarbeitung der Mathematik für die komplexen Systeme der Natur überdurchschnittlich schwierig und arbeitsintensiv. Hier sind prinzipiell neu Organisationsformen notwendig, für die Ihr Bundesministerium zuständig ist.
[…]
Die letzten Vorsitzenden der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) wissen über die Problematik, die in diesem Brief geschildert wurde, voll Bescheid. Wer aber etwas zu den aufgeworfenen Problemen sagt, wird entlassen. Das ist die Situation unseres Wissenschaftsbetriebes.
Ihrem Bundesministerium stehen in der nächsten Zeit prinzipielle Entscheidungen bevor. Die hier angesprochenen Probleme sind eigentlich etwas für den Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
(Prof. Dr. Gottfried Anger)
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Kompletter Brief unter: http://www.ekkehard-friebe.de/MinSchawan.pdf